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Frankfurt 2015

07. Oktober 2015

Eröffnungsansprache: Zukunft der Medizin – Medizin der Zukunft. Geriatrie.

(07.10.2015) Der ältere Mensch wird in der Medizin der Zukunft eine sehr große Rolle spielen. Davon ist DGG-Präsident PD Dr. Rupert Püllen überzeugt. Die Gewichtung der Behandlungsziele wird oder muss sich verändern: Weg von „Hauptsache gesund“ hin zu „Hauptsache selbstständig“. Gerade für Geriater gilt es deshalb verstärkt abzuwägen und vernetztes Denken innerhalb der Ärzteschaft zu fördern.
Diese Überzeugung verdeutlichte der DGG-Präsident mit Beispielen und Argumenten trefflich in seiner Eröffnungsrede zum diesjährigen Jahreskongress. Entsprechend vielfach von Kollegen nachgefragt, haben wir uns nun zur Veröffentlichung dieser Rede entschlossen. Lesen Sie selbst!


Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Feldmann,
sehr geehrter Herr Dekan Prof. Pfeilschifter,
sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,

Sehr herzlich begrüße ich Sie alle hier im Campus Westend der Goethe Universität Frankfurt. Dieser Ort ist nicht nur in vieler Beziehung schön, sondern auch historisch bedeutsam – gerade für uns als Geriater. Hier auf diesem Gelände, keine 200 Meter entfernt, stand die Städtische Anstalt für Irre und Epileptische – heute würde man wohl eher von einem Gesundheitszentrum sprechen – in der Alois Alzheimer seine berühmteste Patientin, Auguste D., betreute.

Ich bin der Goethe-Universität sehr dankbar, dass wir unsere Jahrestagung hier an dieser Stelle halten können. Ich danke der Stadt Frankfurt für den Empfang heute Abend im Rathaus, im Römer.

„Zukunft der Medizin – Medizin der Zukunft. Geriatrie.“ – unter diesem weiten Thema stehen die kommenden 3 Tage. Dieses umfassende Thema kann auch der größte Kongress nur in Teilaspekten beleuchten. Wichtige und bedeutsame Trends wie Medizin im Zeitalter von Big Data oder personalisierte Medizin möchte ich an dieser Stelle nicht vertiefen.


Der demographische Tsunami oder die „Unterjüngung“ der Gesellschaft

Uns als Geriater liegt natürlich die demographische Entwicklung am Herzen. Oder sollen wir eher sagen, der demographische Tsunami?! Was bedeutet die weltweite große Zunahme älterer Menschen für die Medizin der Zukunft?
Zu allererst sei festgestellt, dass ein Aspekt der demographischen Entwicklung, nämlich die erhebliche Zunahme von Langlebigkeit und Gesundheit im höheren Lebensalter, eine große Erfolgsgeschichte, auch der Medizin, ist. Deshalb ist der Begriff „Überalterung“ aus geriatrischer Sicht völlig inadäquat. Viele Probleme, die in Verbindung mit der demographischen Entwicklung angesprochen werden, können zurückgeführt werden auf die gleichzeitig entwickelnde Abnahme der Geburtenrate, so dass „Unterjüngung“ der treffendere Begriff für viele Probleme darstellt.

Doch was bedeutet die demographische Entwicklung für die Medizin der Zukunft? Sie alle kennen sicher noch die amerikanische Firma Eastman Kodak, ein ehemals weltweit bedeutender Hersteller von fotographischer Ausrüstung. Sie alle kennen die gelben Kodakfilmschachteln und die gelb-roten Kodak Reklameschilder. Heute finden Sie keine Kodakbilder mehr. Eastman Kodak hat nach 131-jähriger Firmengeschichte Konkurs angemeldet. Wie konnte das einem weltweit führenden Großkonzern passieren? Und was hat das mit uns zu tun?

Die Firma verwechselte ihre Produkte mit den Wünschen des Kunden. Kodak bot Filme, Fotopapier und Chemikalien an. Der Kunde wünschte Bilder. Lange Zeit war es unvorstellbar, dass Bilder ohne den von Kodak gewählten Produktionsprozess verfügbar waren.
Ist die heutige Medizin nicht auch in Gefahr, ihre Angebote und Produkte mit den Wünschen der Patienten – und hier spreche ich in erster Linie für die älteren Patienten – zu verwechseln? Kann und will die heutige, technisch hochgerüstete, auf einzelne Krankheiten ausgerichtete Medizin, mit zahlreichen Angeboten die Wünsche, insbesondere des älteren, multimorbiden Patienten, überhaupt erfüllen?


Die Wünsche des älteren Patienten

Wenn wir dieser Frage nachgehen wollen, dann müssen wir vorab fragen, was sind die Wünsche des älteren Patienten? Ich glaube, hier beginnt das Missverständnis. Ist es wirklich  „Hauptsache gesund“? Welcher ältere Mensch ist schon gesund in dem Sinne, dass er frei von jeglicher Erkrankung wäre? Auf Dauer bleibt niemand frei von Krankheit. Man muss nur alt genug werden oder intensiv genug untersucht werden, bis eine Krankheit gefunden wird.
Und genau das passiert heute: Immer mehr Menschen werden immer älter und immer zahlreichere und sensitivere Untersuchungsmethoden werden angewandt. Zusätzlich werden noch die Definitionen von Krankheiten in dem Sinne geändert, dass zuvor Gesunde nun alleine auf Grund der geänderten Definition als Kranke gelten müssen – Beispiel Depression.

Die meisten unserer älteren Patienten wissen sehr wohl, dass sich der Wunsch, auf Dauer frei von Krankheiten zu bleiben, kaum erfüllen lässt. In ihrem Realismus sagen sie „Ich will niemandem zur Last fallen“ oder „Ich will in meiner Wohnung bleiben“.  Das heißt übertragen: „Ich will selbständig bleiben!“, also nicht Hauptsache gesund, sondern Hauptsache selbstständig – trotz Krankheiten.


Krankheitsbezogenes Konzept im Zeitalter von Multimorbidität nicht tragfähig

Die Medizin in ihrer jetzigen Verfassung ist sehr gut auf einzelne Erkrankungen eingestellt. Die Fortschritte der Medizin, die wir sehen, verdanken sich zu einem großen Teil der Spezialisierung auf einzelne Krankheiten, ihrer Diagnostik und ihrer Therapie. Doch dieses krankheitsbezogene Konzept erweist sich im Zeitalter von Multimorbidität als nicht tragfähig auf dem Weg in die Zukunft. Jede auch nur vermutete Krankheit diagnostisch abzuklären und zu therapieren, überfordert sowohl den Einzelnen als auch die Gesellschaft – auch in finanzieller Hinsicht. Und es entspricht nach meiner Erfahrung auch nicht den Wünschen der meisten älteren Patienten.

Auch in wissenschaftlicher Hinsicht stößt die Medizin in ihrer jetzigen Verfassung an Grenzen. Die Evidenz basierte Medizin, der wir viele Erkenntnisse verdanken und die unerlässlich ist bei der Überprüfung klarer Hypothesen, stößt an ihre Grenze bei Multimorbidität und bei der Heterogenität, die mit dem höheren Lebensalter verbunden ist. Auch hier, beim Erkenntnisgewinn, muss die Medizin der Zukunft neue Wege gehen!


Immer im Blick behalten: Hauptsache selbstständig!

Im Augenblick sind wir in Gefahr, unser Portfolio, das Portfolio der heutigen Medizin – nämlich Diagnostik und Therapie einzelner Erkrankungen – über die Wünsche vieler älterer Patienten nach Selbständigkeit und Lebensqualität zu stellen. An sich gute, technisch ausgereifte diagnostische und therapeutische Verfahren, die sich bei Menschen mittleren Lebensalters bewährt haben, werden – manchmal aus wirtschaftlichen Aspekten – auf die wachsende Gruppe älterer Patienten übertragen, für die diese Verfahren weder evaluiert wurden und die sie oftmals noch nicht einmal haben wollen.

Wie oft nehmen wir leichtfertig zur Abklärung oder Behandlung von Krankheiten im Alter einen funktionellen Abbau in Kauf? Das Problem wird verschärft durch den Umstand, dass wir als Ärzte, die auf bestimmte Organsysteme spezialisiert sind, den funktionellen Abbau kaum bemerken, weil wir oft mehr auf Laborwerte und Röntgenbilder schauen und nicht auf die Alltagsfähigkeit eines Patienten. Ich habe Arztbriefe aus Kliniken gesehen, die auf acht und mehr Seiten zahlreiche Befunde aufführten – aus denen aber nicht hervorging, ob ein älterer Patient überhaupt das Bett verlassen und einige Schritte machen konnte oder nicht.


Neue Konzepte für ältere Menschen

Damit sich die Medizin gerade für den älteren Menschen gut in die Zukunft entwickelt, muss sie ihre bisherige Methodik und ihre bisherigen krankheitsbasierten Ansätze kritisch überprüfen. Dabei darf es nicht darum gehen, Krankheit und Alltagsfunktion gegeneinander auszuspielen. Aber in der Medizin der Zukunft – gerade des älteren Menschen – darf es nicht nur heißen: Was HAT der oder jener Patient! Vielmehr muss es auch heißen: Was KANN der oder jener Patient und was KANN er NICHT.

Wenn wir dann Defizite in der Alltagsfähigkeit feststellen und nach der Ursache dieser Defizite forschen, dann werden wir in vielen Fällen auch auf Krankheiten stoßen, die diese Funktionsbeeinträchtigungen bedingen. Und diese Krankheiten zu diagnostizieren und zu therapieren, hat auch für jeden Geriater eine hohe Priorität.

Natürlich kann man den medizinischen Betrieb nicht mit einer einzelnen Firma wir Kodak vergleichen. Natürlich gibt es zahlreiche Unterschiede. Und natürlich sind Patienten nicht mit Kunden gleichzusetzen. Doch auf die Wünsche der älteren Patienten zu horchen, ist eine wichtige Voraussetzung für die Akzeptanz der Medizin der Zukunft. Wenn es gelingt, die Erwartungen gerade der älteren Menschen ernst zu nehmen, die Angst vor dem Verlust von Selbstständigkeit und den Erhalt von Lebensqualität stärker zu berücksichtigen, dann wird die Medizin des hohen Lebensalters nicht das Schicksal von Kodak erleiden – sondern einen guten Weg in die Zukunft finden!

Dazu soll dieser Kongress einen Beitrag leisten.
Ich wünsche dem Kongress gutes Gelingen und uns allen hier eine gute und anregende Zeit.

DGG-Präsident PD Dr. Rupert Püllen,
3. September 2015

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