Es gibt immer mehr alte Menschen – und der Mensch wird immer älter. Der demografische Wandel führt dazu, dass heute in allen Gebieten der Medizin immer mehr alte Patientinnen und Patienten behandelt werden, die auf spezielle ärztliche Hilfe angewiesen sind. Die Geriatrie ist die medizinische Spezialdisziplin, die sich mit den körperlichen, geistigen, funktionalen und sozialen Aspekten in der Versorgung von akuten und chronischen Krankheiten, der Rehabilitation und Prävention alter Patientinnen und Patienten sowie deren spezieller Situation am Lebensende befasst.
Oft gestellte Fragen: Was ist Geriatrie und was kann die Altersmedizin in Deutschland leisten?
Was genau macht eigentlich eine Geriaterin bzw. ein Geriater? Was sind die Besonderheiten einer geriatrischen Behandlung? Und wie kann die Geriatrie zur Optimierung der Versorgung sehr alter Patientinnen und Patienten beitragen? Die Deutsche Gesellschaft für Geriatrie (DGG) gibt Antworten auf die wichtigsten Fragen:
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Was ist Geriatrie?
Geriatrie, auch bekannt als Altersmedizin, ist die Lehre von den Krankheiten des alternden Menschen. In den meisten europäischen Ländern ist die Geriatrie ein eigenständiges Fach oder ein Schwerpunkt in der Inneren Medizin. In Deutschland steckt sie noch in den Anfängen: Bisher ist sie als Schwerpunkt in der Inneren Medizin in drei Bundesländern (Berlin, Brandenburg, Sachsen-Anhalt) anerkannt. Auch an den Universitäten werden Impulse gesetzt: Immer mehr Institutionen sind dabei, einen Lehrstuhl für Geriatrie einzurichten. Bereits berufstätige Ärztinnen und Ärzte haben die Möglichkeit, sich zur Geriaterin bzw. zum Geriater fortzubilden, indem sie anderthalb Jahre lang an einer entsprechend zertifizierten Klinik tätig sind.
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Was macht eine Geriaterin bzw. ein Geriater und vor welchen Herausforderungen steht sie bzw. er?
Die Geriaterin bzw. der Geriater ist Spezialistin bzw. Spezialist für die Behandlung sehr alter Menschen. Denn der Organismus einer 90-Jährigen bzw. eines 90-Jährigen funktioniert anders als der eines 30-jährigen Menschen. Vor allem: Die typische Geriaterin bzw. der typische Geriater wird immer mehr zum Netzwerker zwischen den Disziplinen. Denn je nach Leiden oder Symptom, wird die alte Patientin bzw. der alte Patient in unterschiedlichen medizinischen Bereichen behandelt, von vielen Ärztinnen und Therapeuten, die im Zweifelsfalle nichts voneinander wissen und sich nicht austauschen. Eigentlich ist in jedem Fall aber das Wissen der Altersmediziner vonnöten, um hochbetagten Patienten eine ausgezeichnete Versorgung zu gewährleisten. Gerade deshalb werden Geriaterinnen in der Medizin der Zukunft eine strategisch wichtige Rolle spielen. Bei ihnen laufen alle Fäden zusammen. Die Zukunft der Medizin steht deshalb vor großen Herausforderungen. Da wäre die wachsende Komplexität von diagnostischen und therapeutischen Prozessen, die Zunahme dementieller Syndrome, die Verknappung von Ressourcen. Aber auch die familiäre Unterstützung wird weniger. Vor genau diesem Kontext sucht die Medizin des Alterns für ältere Menschen individuelle Lösungen.
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Welche Patientinnen und Patienten behandeln Geriaterinnen und Geriater?
Die durchschnittliche geriatrische Patientin bzw. der geriatrische Patient ist über 70 Jahre alt. Für ihre bzw. seine Behandlung ist ein ganzheitlicher Ansatz notwendig, denn viele Seniorinnen und Senioren leiden an mehreren Krankheiten zugleich, die teilweise chronisch sind. Spezifische Krankheitserscheinungen können so nicht gezielt behandelt werden.
Ein typisches Beispiel für diese Multimorbidität wäre eine hochbetagte Person, die an Herz- und Nierenschwäche sowie schweren Gelenkschmerzen leidet. Zusätzlich lässt die geistige Fitness deutlich nach. Kommt es nun zu einem Sturz und einem Knochenbruch, kann dies überaus komplexe Auswirkungen auf die Gesamtgesundheit des Patienten haben. Im schlimmsten Fall kann der Sturz Auslöser einer Kettenreaktion werden: Nicht nur, dass die Patientin bzw. der Patient künftig auf Hilfe im Alltag angewiesen ist, um zu essen, sich an- und auszuziehen oder zu waschen. Gleichzeitig wächst auch die Wahrscheinlichkeit für weitere Komplikationen wie erneute Stürze, Mangelernährung oder Infektionen durch unzureichende Hygiene.
Das Ziel der Geriaterin bzw. des Geriaters als spezialisierte Fachärztin bzw. spezialisierter Facharzt ist daher, nicht nur ein bestimmtes Symptom zu behandeln, sondern den Gesamtzustand der Patientin bzw. des Patienten im Blick zu haben und ihr bzw. ihm zu helfen, so lange wie möglich ihre bzw. seine Gesundheit und Autonomie im Alltag zu bewahren.
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Was sind die Besonderheiten einer geriatrischen Behandlung?
Wegen der komplexen Situation älterer Patientinnen und Patienten nutzt die Geriaterin bzw. der Geriater zusätzlich zu den klassischen ärztlichen Untersuchungsmethoden das geriatrische Assessment, um alterstypische Mehrfacherkrankungen, körperlich-funktionelle Defizite, aber auch mentale und psychische Probleme sowie das soziale Umfeld der Patientin bzw. des Patienten abzubilden. Auf Grundlage dieser Ergebnisse kann die Ärztin bzw. der Arzt die multiprofessionelle Therapie planen und überprüfen. Das Ziel der Geriaterin bzw. des Geriaters ist, die geriatrischen Patientinnen und Patienten zu identifizieren, dem funktionellen Abbau und der Beeinträchtigung des gesamten Organismus entgegenzuwirken und das bisherige Niveau an Autonomie zu erhalten oder wiederherzustellen.
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Worin besteht der theoretische Hintergrund geriatrischer Arbeit?
Wegen der altersbedingt eingeschränkten Organreserven (die aktive Zellmasse sinkt, die Kompensationsmöglichkeiten sind eingeschränkt) reagieren betagte Patienten auf unterschiedliche Auslöser häufig mit ähnlichen Mustern. Diese werden als geriatrische Krankheitszeichen (Syndrome) bezeichnet, zum Beispiel Sturz und Immobilität, Inkontinenz, Mangelernährung, Verlust von Muskelmasse, Gebrechlichkeit, Austrocknung aufgrund zu wenigen Trinkens, chronischer Schmerz und anderes mehr. Aufgrund ihrer vielfältigen Ursachen unterscheiden sich diese vom klassischen Syndrombegriff.
Eine Behandlung muss sowohl die Auslöser, aber auch die Reaktionen der verschiedenen Organsysteme im Kontext der Mehrfacherkrankungen berücksichtigen. Dazu ist es notwendig abzuwägen, welche Krankheiten tatsächlich mit Medikamenten behandelt werden sollten, um so wenige Nebenwirkungen wie möglich zu erzeugen. Zusätzlich sollten Ärzte auf nicht-medikamentöse Therapieformen wie Krankengymnastik, Ergotherapie, Sprach- und Schlucktherapie sowie soziale Maßnahmen setzen.
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Was muss eine Geriaterin bzw. ein Geriater können?
Die Geriaterin bzw. der Geriater muss vielseitig agieren können: So muss sie bzw. er neben dem geriatrischen Assessment und der Kenntnis geriatrischer Syndrome auch die Planung und Leitung eines multiprofessionellen Teams beherrschen. Zudem sind gute differentialdiagnostische und pharmakologische Kenntnisse notwendig. Zu den weiteren Anforderungen gehören umfassende Kenntnisse in der Inneren Medizin und anderen Fachgebieten. Untersuchungsmethoden wie EKG, Endoskopie, Echokardiographie, Doppler-Druck-Messung und Schluckdiagnostik müssen ihr bzw. ihm vertraut sein.
Ein langer Anforderungskatalog. Doch notwendig, wenn man bedenkt, dass der Ärtzin bzw. dem Arzt im Alltag so unterschiedliche chronischen Alterskrankheiten begegnen wie Bluthochdruck, Herzerkrankungen, Diabetes, Nierenschwäche, chronischen Atemwegserkrankungen, Durchblutungsstörungen, Mangelernährung, Blutmangel, Arthrose, Osteoporose, Demenz, Depression, chronische Schmerzen und vieles mehr. Eine qualifizierte Geriatrie ist zudem ohne Kenntnisse der internistischen Intensivmedizin nicht machbar. Spezielle Techniken wie Elektroenzephalografie (EEG), Elektroneurografie (ENG), Computertomographie (CT), Herzkatheter und andere sind wichtige Ergänzungen in der Hand des beratend hinzugezogenen Organspezialisten.
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Womit beschäftigt sich geriatrische Forschung?
Die Kompression der Morbidität mit Erhalt der Autonomie bis ins hohe Alter stellt das übergeordnete Ziel geriatrischer Forschung dar. Grundlagenorientierte Schwerpunkte umfassen beispielsweise die Bereiche Sarkopenie, Frailty, Immunologie und körperliche Aktivität. Neben der Präzisierung des geriatrischen Assessments erlangen aktuell vor allem Themen im Bereich der Mangelernährung, des körperlichen Trainings, der Sturzprävention und der Polypharmazie klinische Relevanz. Die wachsende Qualität spiegelt sich auch im steigenden Impact Factor und der erhöhten Reichweite der Publikationsorgane wider. Wesentliche Elemente geriatrischer Arbeit konnten zudem auf hohem Evidenzlevel bestätigt werden.
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Wo werden Geriaterinnen und Geriater benötigt?
Krankheitsspezifische und funktionsorientierte Maßnahmen müssen sich bei der Behandlung alter, mehrfacherkrankter Patientinnen und Patienten sinnvoll ergänzen. Deshalb ist es zweckmäßig, dass Geriaterinnen und Geriater auf unterschiedlichen Ebenen der medizinischen Versorgung in die Entscheidungsprozesse einbezogen werden. Hochbetagte Patientinnen und Patienten werden selbstverständlich nach den krankheitsspezifischen Leitlinien in den jeweiligen Abteilungen versorgt. Wenn jedoch körperliche Funktionsdefizite oder alterstypische Mehrfacherkrankungen das klinische Bild bestimmen, können gleich zu Beginn oder im Verlauf einer akuten Erkrankung geriatrische Maßnahmen wie Assessment, multiprofessionelle Therapie und Rehabilitation in den Vordergrund rücken.
Jede Medizinerin und jeder Mediziner, die bzw. der alte Menschen behandelt, sollte die vorrangige Wichtigkeit einer funktionserhaltenden Behandlung zum richtigen Zeitpunkt erkennen. Die Geriaterin bzw. der Geriater muss gewährleisten, ihre bzw. seine Therapie im Zweifelsfall zugunsten einer gezielten Intervention (etwa einer sofortigen perkutanen transluminalen Angioplastie (PTA), das Einsetzen einer künstlichen Hüfte, einer Krisenintervention bei schwerer Psychose, einer Lyse-Therapie bei einem Hirninfarkt) zurückzustellen oder zu unterbrechen.
Viele Hochbetagte können durch Erhalt ihrer bisherigen Alltagskompetenz ins gewohnte Umfeld entlassen werden. Für die ambulante Medizin gilt, dass alte Patientinnen und Patienten in erster Linie von ihren vertrauten Haus- und Fachärztinnen und ärzten behandelt werden. Erst wenn umfassende Diagnostik und Therapie zur Aufrechterhaltung der bisherigen Unabhängigkeit im Alltag notwendig werden oder komplexe Fragestellungen aus Mehrfacherkrankung und Multimedikation resultieren, sollten die Patientinnen und Patienten an Geriaterinnen bzw. Geriater überwiesen werden.
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Wie will sich die Geriatrie im Fächerkanon einordnen?
In den meisten europäischen Ländern ist Geriatrie ein eigenständiges Fach oder ein Schwerpunkt in der Inneren Medizin. In Deutschland ist sie als Schwerpunkt in der Inneren Medizin bereits in drei Bundesländern (Berlin, Brandenburg, Sachsen-Anhalt) anerkannt. Da die Behandlung der häufigsten altersassoziierten Erkrankungen Kenntnisse und Fertigkeiten der internistischen Basisweiterbildung voraussetzen und die meisten geriatrischen Kliniken (vor allem im Akutbereich) internistischen Abteilungen zugeordnet sind, ist ein Facharzt nur als Schwerpunkt in der Inneren Medizin (neben Gastroenterologie, Rheumatologie, Kardiologie etc.) sinnvoll. Für Fachbereiche mit hohem Anteil betagter Patientinnen und Patienten wie der Neurologie, der Psychiatrie oder der Allgemeinmedizin, wird wie bisher eine fachbezogene klinische Zusatzweiterbildung in Geriatrie erhalten bleiben. Kurse zur geriatrischen Grundversorgung sollten für alle Ärztinnen und Ärzte insbesondere in der ambulanten Versorgung angeboten werden.
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Welche Rolle spielt die Geriatrie in der Krankenversorgung bisher und in Zukunft?
Geriatrie verfügt nach der Kardiologie mittlerweile über die zweitgrößte Anzahl von spezialisierten internistischen Betten in deutschen Krankenhäusern. Die Geriaterinnen und Geriater sind in die Bereitschaftsdienste der jeweiligen Kliniken und, wenn vorhanden, auch in die internistische Notaufnahme integriert. Die frühzeitige und kontinuierliche Einbindung geriatrischer Kompetenz in die Behandlungsabläufe wird die Qualität der Versorgung hochbetagter, multimorbider Patientinnen und Patienten steigern. Es ist nicht Ziel der Etablierung des Fachgebietes Geriatrie, alle alten Patientinnen und Patienten zu behandeln oder Spezialisierungen in den jeweiligen Organfächern für den alten Menschen zu kopieren.
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Wie finde ich eine Geriaterin bzw. einen Geriater in meiner Nähe?
Die Geriatrie verfügt nach der Kardiologie mittlerweile über die zweitgrößte Anzahl von spezialisierten internistischen Betten in deutschen Krankenhäusern. Die Geriaterinnen und Geriater sind in die Bereitschaftsdienste der jeweiligen Kliniken und, wenn vorhanden, auch in die internistische Notaufnahme integriert. Welche Kliniken über eine geriatrische Abteilung verfügen, sehen Sie im Klinikverzeichnis Geriatrie der DGG. Hier finden Sie deutschlandweit Kliniken mit einem weiterbildungsberechtigen Geriater.
Übersichtsartikel: Altersmedizin und Geriatrisches Assessment (Dr. Henning Freund)
Angesichts der älter werdenden Bevölkerung gewinnt das Geriatrische Assessment immer mehr an Bedeutung – auch um frühzeitig eine Behandlung durch den Facharzt einleiten zu können. Um den Ansprüchen einer guten medizinischen Versorgung einer immer älter werdenden Gesellschaft gerecht zu werden, wurde in drei Bundesländern der Facharzt für Innere Medizin und Geriatrie eingeführt. Laut Definition der Fachgesellschaften führt die Geriatrie akutmedizinische, frührehabilitationsmedizinische und rehabilitationsmedizinische Behandlungen durch. Sie geht deshalb zumeist über die reine Organmedizin hinaus und erbringt zusätzliche Leistungen – vor allem im Bereich der multidisziplinären, ICF- und ICD-orientierten Diagnostik und funktionellen Therapie sowie im Bereich der Prävention und der Palliation.
Die geriatrischen I‘s
Die Einschränkungen geriatrischer Patientinnen und Patienten sind somatischer, kognitiver oder auch affektiver Art – bedingt durch altersphysiologische Veränderungen und gegebenenfalls schon manifeste oder zumindest latente Schädigung (beispielsweise durch Medikamentennebenwirkungen) von Körperstrukturen oder Funktionen. Die Patientinnen und Patienten sind pflegefallgefährdet, häufig treten die geriatrischen „I‘s“ auf: Immobilität, Irritabilität, Instabilität und Inkontinenz sowie auch Isolation, Immundefekte und Impotenz. In letzter Zeit wird häufig ein weiteres geriatrisches „I“ für iatrogene Schädigung hinzugefügt. Nicht selten kommt es auch zum Delir. Die Patientinnen und Patienten weisen darüber hinaus eine erhöhte Vulnerabilität infolge physiologischer Altersveränderungen auf. Hervorzuheben sind Organ übergreifende Wechselwirkungen sowie Defizite in mehreren Funktionsbereichen:
- auf Organebene,
- auf personaler oder
- auf sozialer Ebene
Dazu kommen eine verringerte Anpassungsfähigkeit sowie begrenzte Kompensationsfähigkeit. (...)
Quelle: ÄP NeurologiePsychiatrie 1_2013. Mit freundlicher Genehmigung durch den Verlag.