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28. November 2024

Der Nachwuchs fragt sich: Wohin steuert die Altersmedizin? Ein Beitrag der Jungen Geriatrie

Die Geriatrie ist gefragt wie nie und spielt gerade im Kontext des demografischen Wandels eine ganz besondere Rolle. Doch vor welchen Herausforderungen steht die Altersmedizin genau und wohin steuert die Disziplin aus Sicht des medizinischen Nachwuchses? Das haben sich auch die Mitglieder der Jungen Geriatrie der DGG gefragt und liefern zum Thema einen Gastbeitrag:

Geriatrie in Deutschland – Status quo und quo vadis? – aus Sicht der Jungen Geriatrie

von

  • Maximilian König (Klinik und Poliklinik für Innere Medizin D – Geriatrie, Universitätsmedizin Greifswald, Greifswald; Altersmedizinisches Zentrum Kreiskrankenhaus Wolgast, Wolgast)
  • Simone Hahn (Medizinische Klinik, Bereich Akutgeriatrie, Klinikum Passau, Passau)
  • Johannes Trabert (Medizinisch-Geriatrische Klinik, AGAPLESION Markus Krankenhaus, Frankfurt am Main)

Die Alterung der Bevölkerung stellt die Gesundheitssysteme weltweit vor enorme Herausforderungen [2]. Die Geriatrie, als medizinische Fachdisziplin für die Behandlung älterer Patientinnen und Patienten, steht hier naturgemäß an vorderster Front [1]. Allerdings gibt es vielerorts einen Mangel an geriatrischer Versorgung [2,3]. Eine WHO-Umfrage in 36 Ländern ergab, dass 27 % der medizinischen Fakultäten weltweit keine geriatrische Ausbildung anbieten. Weltweit entscheiden sich Studierende gegen die Geriatrie als Berufswahl aufgrund der vergleichsweise niedrigen Gehälter, des gering empfundenen Prestiges und der hohen Komplexität geriatrischer Patienten [2,4].

Im vergangenen Jahr veröffentlichte Jerry H. Gurlitz im JAMA ein Editorial mit dem Titel „The Paradoxical Decline of Geriatric Medicine as a Profession“ [5]. Dies war ein Anstoß für andere Geriaterinnen und Geriater weltweit, sich ebenfalls kritisch mit der Situation der Geriatrie im eigenen Land auseinanderzusetzen [5,6]-[7].
So unterschiedlich die Länder, die Gesundheitssysteme und die jeweilige Geschichte und Entwicklung der Geriatrie sind, so unterschiedlich ist auch die Einschätzung der aktuellen Verfasstheit der Disziplin [8]. In einigen Punkten herrscht jedoch Einigkeit:

  • Die Gesundheitssysteme sind unzureichend auf die bevorstehende Zunahme in der Versorgung älterer Menschen mit Multimorbidität, Funktionseinschränkungen, Demenz und Gebrechlichkeit vorbereitet.
  • Um die künftige Versorgung älterer Menschen sicherzustellen, muss Personal gefunden und eingestellt werden.
  • Aus- und Weiterbildung in der Geriatrie müssen intensiviert und verbessert werden.
  • Fortgesetzte Überzeugungsarbeit ist notwendig, um die zentrale Bedeutung der Geriatrie für eine moderne Gesundheitsversorgung zu verdeutlichen.
  • Die Geriatrie muss den Willen haben zu gestalten, Einfluss zu nehmen und Veränderungen zu bewirken.

Die Frage nach dem Status quo und „quo vadis?“ beschäftigt naturgemäß auch uns in der Jungen Geriatrie in Deutschland, geht es doch vor allem auch um unsere berufliche Zukunft.

Die Statistiken der letzten Jahre zeigen einen positiven Trend: Immer mehr stationäre geriatrische Einrichtungen und steigende Fallzahlen, immer mehr Ärztinnen und Ärzte, die die Zusatzweiterbildung Geriatrie oder den Facharzt erwerben. Auch die Deutsche Gesellschaft für Geriatrie entwickelt sich dynamisch. Parallel dazu machte auch der akademische Strukturaufbau Fortschritte. Lange schien das Ziel, einen Lehrstuhl für Geriatrie an jeder medizinischen Fakultät zu etablieren, in greifbarer Nähe [9]. Mussten andere Fächer Betten reduzieren, wuchs die Zahl geriatrischer Betten immer weiter an. Erst die COVID-19-Pandemie und Personalmangel bei ärztlichem wie nichtärztlichem Personal haben zuletzt den Ausbau der Kapazitäten begrenzt oder Einrichtungen gar gezwungen, ihre maximal mögliche Belegung zu reduzieren [10].

Klar ist: Altersmedizin ist gefragt wie nie. Geriatrische Themen stehen ganz oben auf der klinischen wie wissenschaftlichen Agenda: Zunehmend werden auch geriatrische Patienten in klinischen Studien berücksichtigt [11]. Die noch relativ jungen geriatrischen Konzepte wie Frailty und Sarkopenie finden auch und gerade außerhalb der Geriatrie immer mehr Beachtung – was großartig ist [12-13]. Leider muss man aber immer wieder feststellen, dass wissenschaftliche Projekte zu geriatrischen Themen ohne oder mit geringer geriatrischer Beteiligung auskommen – nicht nur in Deutschland [14-15]. Dazu passen auch immer wieder anzutreffende Äußerungen wie „Wir sind doch alle Geriater” – „Wir betreuen doch alle alte Menschen!“

Eine Reihe von Problemen gibt zudem Anlass zu der Befürchtung, dass die Entwicklung unseres Fachs nicht mit dem steigenden Bedarf Schritt halten kann. Die Geriatrie in Deutschland kann aktuell nicht wählerisch sein, was den Nachwuchs angeht. Aus Sicht der Jungen Geriatrie ist die Nachwuchsgewinnung das zentrale Problem unseres Fachs zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Leider handelt es sich um einen Teufelskreis, beginnend an der Universität: Studierende werden derzeit mit dem sperrigen Begriff „Querschnittsbereich Medizin des Alterns und des alten Menschen“ konfrontiert. Warum nicht einfach und klar „Geriatrie“ oder „Altersmedizin“? Der aktuelle Referentenentwurf zur neuen Approbationsordnung schlägt bereits die richtige Richtung ein: Durch die Streichung des „Querschnittsbereichs“ wird die „Medizin des Alterns und des alten Menschen“ als klinisches Fach auf Augenhöhe mit Disziplinen wie Innere Medizin oder Neurologie verankert. In diesem Zuge könnten auch Umfang und Relevanz der Geriatrie in der Lehre gestärkt werden. Wie genau die Umsetzung in der Lehre aussehen wird, bleibt abzuwarten. Nicht selten entwickeln sich Interesse und Leidenschaft für ein Fachgebiet bereits während einer Famulatur oder der Arbeit an der Dissertation. Noch immer haben 21 Universitätsmedizin-Standorte keinen Lehrstuhl bzw. können diesen nicht besetzen – mehr als die Hälfte! (gegenüber 27 % weltweit [2]). Kardiologische Lehre ohne Kardiologen? Unvorstellbar! Geriatrische Lehre ohne Geriater: anscheinend machbar – eigentlich ein Drama. Ohne einen geriatrischen Lehrstuhl oder eine geriatrische Abteilung vor Ort fehlen den Studierenden hochspezialisierte Dozenten, Mentoren und Betreuende für Doktoranden – insbesondere aber Vorbilder! – aus der Geriatrie.

Hinzu kommt, dass Habilitationen in der Geriatrie aus unserer Erfahrung Mangelware sind. Damit fehlt der dringend erforderliche akademische Nachwuchs für die Besetzung neuer Lehrstühle. Bewerben sich in anderen Fächern zahlreiche aussichtsreiche Kandidaten um Professuren und Lehrstühle, sind es in der Geriatrie oft nicht einmal eine Handvoll – von einer „Auslese” der Besten zur Gewährleistung von Exzellenz in Forschung und Lehre kann also nur bedingt gesprochen werden. Der Mangel ist also sowohl in der Breite als auch in der Spitze.

Die meisten Geriater erwerben die Zusatzbezeichnung Geriatrie zusätzlich zu einem Facharzttitel in Innerer Medizin, Neurologie oder Allgemeinmedizin. Dadurch ist die Geriatrie in Deutschland sehr divers aufgestellt – in den Abteilungen arbeiten regelmäßig Internisten, Neurologen oder Allgemeinmediziner Hand in Hand, zum Wohle der Patienten. Dennoch könnte eine zeitgemäße geriatrische Facharztweiterbildung einen erheblichen Zuwachs an innerer Geschlossenheit und Gewicht nach außen bedeuten und damit auch für die Nachwuchsgewinnung wichtig sein. In der Facharztweiterbildung könnten attraktive, strukturierte Curricula den Nachwuchs begeistern [3].
Dass entsprechende positive Impulse sehnlichst erwartet werden, spüren wir in der Jungen Geriatrie. Seit ihrer Gründung vor zwei Jahren beim DGG Jahreskongress 2022 erfährt die Junge Geriatrie stetigen Zulauf und beweist eindrücklich das Interesse der kommenden Generation an der Geriatrie. Neben den Netzwerken und niedrigschwelligem fachlichem Austausch wollen wir aktiv und „bottom-up” an der Gestaltung der Geriatrie in Deutschland mitwirken. In kurzer Zeit ist ein äußerst lebendiges Netzwerk entstanden. Auch im europäischen Postgraduiertenkurs für zukünftige Führungskräfte in der Geriatrie, der European Academy for Medicine of Ageing (EAMA), sind Geriaterinnen und Geriater aus Deutschland immer stärker vertreten. Mittlerweile übersteigt die Anzahl der Bewerber deutlich das vorhandene Angebot an Stipendien.

Die Geriatrie ist prädestiniert dafür, eine zentrale Rolle im gegenwärtigen Wandel des Gesundheitssystems zu übernehmen. Wie so oft ist dies eine Frage des Dürfens, Könnens und Wollens [16]: ohne die entsprechenden Rahmenbedingungen wird es ihr kaum gelingen. Zur dritten Dimension, dem Wollen: Die Junge Geriatrie ist bereit, die Herausforderung anzunehmen, mitzugestalten und Veränderungen zu bewirken. Packen wir es an!

ERKLÄRUNGEN

ETHISCHE GENEHMIGUNG
Nicht zutreffend.

ZUSTIMMUNG ZUR VERÖFFENTLICHUNG
Alle Autoren haben ihr Einverständnis zur Veröffentlichung gegeben.

VERFÜGBARKEIT VON DATEN UND MATERIALIEN
Nicht zutreffend.

INTERESSENSKONFLIKTE
Alle Autoren sind Mitglied der DGG und der Jungen Geriatrie. Der korrespondierende Autor gibt für sich und seine Koautoren an, dass keine sonstigen Interessenkonflikte bestehen.

FÖRDERUNG
Keine.

BEITRÄGE DER AUTOREN
Dieses Manuskript ist ein Gemeinschaftswerk von Maximilian König, Johannes Trabert und Simone Hahn.

REFERENZEN
1. Deutscher Ärzteverlag GmbH. Geriatrische Versorgung: Der Bedarf wird steigen. In: Deutsches Ärzteblatt [Internet]. 8 Oct 2021 [cited 6 Feb 2024]. Available: https://www.aerzteblatt.de/archiv/221425/Geriatrische-Versorgung-Der-Bedarf-wird-steigen
2. The Lancet Healthy Longevity. Care for ageing populations globally. Lancet Healthy Longev. 2021;2: e180.
3. Palmer RM. Not enough geriatricians or not where they are needed? Journal of the American Geriatrics Society. 2023. pp. 2701–2703.
4. Meiboom AA, de Vries H, Hertogh CMPM, Scheele F. Why medical students do not choose a career in geriatrics: a systematic review. BMC Med Educ. 2015;15: 101.
5. Gurwitz JH. The Paradoxical Decline of Geriatric Medicine as a Profession. JAMA. 2023;330: 693–694.
6. Michel J-P, Ecarnot F. European and worldwide geriatric medicine is blooming. Eur Geriatr Med. 2023;14: 1187–1189.
7. Gordon AL, Martin F, Mistry S, Harwood RH, Dhesi J. Whether from a position of strength or weakness, geriatric medicine has work to do to drive up standards in health care for older people. Age Ageing. 2023;52. doi:10.1093/ageing/afad208
8. Stuck AE, Masud T. Health care for older adults in Europe: how has it evolved and what are the challenges? Age Ageing. 2022;51. doi:10.1093/ageing/afac287
9. Meckel N. Drei neue Lehrstühle für die Geriatrie. [cited 6 Feb 2024]. Available: https://www.dggeriatrie.de/ueber-uns/aktuelle-meldungen/766-drei-neue-lehrstuehle-fuer-die-geriatrie
10. Grund S, Gordon AL, Bauer JM, Achterberg WP, Schols JMGA. COVID-19 Pandemic and Consecutive Changes in Geriatric Rehabilitation Structures and Processes - A Deeper Attempt to Explain the COVID Rehabilitation Paradox (Lessons to Learn to Ensure High Quality of Care in GR Services). J Nutr Health Aging. 2022;26: 64–66.
11. Pitkala KH, Strandberg TE. Clinical trials in older people. Age Ageing. 2022;51. doi:10.1093/ageing/afab282
12. Kwak D, Thompson LV. Frailty: Past, present, and future? Sports Med Health Sci. 2021;3: 1–10.
13. Aprahamian I, Xue Q-L. Shaping the next steps of research on frailty: challenges and opportunities. BMC Geriatr. 2021;21: 432.
14. Liggett A, Medved D, Lindquist LA. Lack of geriatricians in aging-related national media talks. J Am Geriatr Soc. 2023;71: 2328–2330.
15. Kocman D, Regen E, Phelps K, Martin G, Parker S, Gilbert T, et al. Can comprehensive geriatric assessment be delivered without the need for geriatricians? A formative evaluation in two perioperative surgical settings. Age Ageing. 2019;48: 644–649.
16. Salzman BE, Hersh LR. A Call for Complex Care Curricula: Geriatric Providers Should Not Only Heed but Lead the Call. J Am Geriatr Soc. 2021;69: 333–335.

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