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PM: Geisteswissenschaft trifft Gerontologie: Wie die Lektüre von Shakespeares König Lear hilft, Demenz besser zu verstehen
Vor mehr als 100 Jahren spielte Goethes „Faust“ eine wichtige Rolle in der klassischen Medizin-Literatur. Heutzutage sind Kultur und Literatur in der Medizin dagegen eher ein Nischen-Thema. Dass sich Geisteswissenschaften und Medizin, insbesondere in der Gerontologie, wieder mehr aufeinander zubewegen und so ein besseres Verständnis vom Menschsein ermöglichen, dafür macht sich die Amerikanistin und Alternswissenschaftlerin Professorin Ulla Kriebernegg (Foto) von der Universität Graz stark. „Das Altern ist ein so komplexer Vorgang, dass er sich nur multiperspektivisch, eben weit über die evidenzbasierte Medizin hinaus, erforschen lässt. Kunst und Kultur können hier sehr wertvollen neuen Input für ein holistisches Bild des alternden Menschen liefern“, erklärt Kriebernegg. Wie wirkmächtig literarische Texte unsere Wahrnehmung auch über das Altern und Krankheiten mitprägen, zeigt sie in ihrer Keynote-Lecture beim gemeinsamen Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie (DGG) und der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie (DGGG), der vom 12. bis 15. September in Frankfurt am Main stattfindet. Dafür veranschaulicht die Kulturwissenschaftlerin unter anderem, was man von Shakespeares Figur König Lear und seiner 400-jährigen Rezeptionsgeschichte über das Altern sowie den Umgang mit Demenz lernen kann. Außerdem stellt sie ein Modul zur sogenannten „Narrativen Medizin“ vor und diskutiert, wie diese die Gerontologie voranbringen kann.
Wie sich die Rezeption von literarischen Texten im Zeitverlauf verändert und auch etwas über unsere aktuelle Gesellschaft aussagt, lässt sich derzeit gut an der Geschichte von Shakespeares König Lear ablesen: „Während König Lear früher als milder, weiser Monarch galt, zeigen ihn neuere Theaterproduktionen als gefährlichen Diktator. Der gefeierte britische Schauspieler Simon Russel Beale ist zudem überzeugt, dass Lear Symptome der Lewy-Body-Demenz zeigt. Aber ist das eine hilfreiche Diagnose?“, fragt Kriebernegg. „Und diese König Lears sitzen auch in der alltäglichen geriatrischen Praxis. Wie können wir mit diesen Menschen, die am Lebensende von Trauer und Verlust, Angst und Verzweiflung geprägt sind, umgehen?“ In ihren Augen können Literatur und Film hier wertvolle Hilfestellungen geben. Deswegen brauche es die Literaturwissenschaft, um Texte nicht in einer stereotypen Art oder mit gängigen, altersfeindlichen Bildern zu lesen, sondern auch nicht offensichtliche Themen herauszuarbeiten und Widersprüchliches aufzuzeigen.
Wie Geisteswissenschaften und Medizin wieder zusammenkommen können
Um wichtige Erkenntnisse beider Welten – der medizinischen und der geisteswissenschaftlichen – wieder stärker zusammenzubringen und so auch Altersdiskriminierung entgegenzuwirken, ist Professorin Ulla Kriebernegg vielfältig aktiv in Forschung und Lehre. Mit der Age and Care Research Group Graz etwa schafft sie Möglichkeiten und Strukturen für die interdisziplinäre Kooperation, vor allem auch in der Nachwuchsförderung. Als Lehrbeauftragte kann sie wachsendes Interesse verzeichnen – auf beiden Seiten: Studierende der Amerikanistik hätten Interesse an Aging Studies, aber auch an literarischen Krankheitsdarstellungen wie Demenz. Auch das Interesse der Medizin-Studierenden an den Medical Humanities wachse beständig. Kriebernegg engagiert sich außerdem im Deutschen Netzwerk für Narrative Medizin, das unter der Schirmherrschaft von Dr. Anita Wohlmann von der Universität Mainz initiiert wurde. In Vorträgen, Workshops und Veranstaltungen können Teilnehmende dort lernen, wie geisteswissenschaftliche Methoden und Konzepte mit evidenzbasierter Medizin verbunden werden. „Mit meiner Arbeit möchte ich insgesamt zu mehr intergenerationeller Solidarität beitragen. Wir müssen besser verstehen und akzeptieren, dass Altern auch ambivalent ist und es nicht nur als Belastung wahrnehmen.“
Zur Person
Professorin Ulla Kriebernegg ist Amerikanistin und Alternswissenschafterin, Leiterin des Zentrums für interdisziplinäre Alterns- und Care-Forschung der Universität Graz und Vorsitzende der Age and Care Research Group Graz. Sie ist stellvertretende Vorsitzende des European Network in Aging Studies (ENAS), Mitherausgeberin der Reihe "Aging Studies", Associate Editor des Journals "The Gerontologist" und Board Member mehrerer Journals – unter anderem dem Journal of Aging Studies. Seit 2020 ist sie Fellow des Trent Centre for Aging and Society in Kanada.
Termin:
Assoz. Prof. Mag. Dr. phil. Ulla Kriebernegg
Keynote-Lecture: "An Old Man is Always a King Lear": Cultural Gerontological Perspectives on Vulnerability and Resistance
Gerontologie- und Geriatrie-Kongress
Hörsaal 3, Westend-Campus, Goethe-Universität Frankfurt am Main
Montag, 12. September 2022
14:45 bis 15:30 Uhr
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Foto: privat
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