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Pressemeldungen

16. November 2016

PM: Studie zeigt: Schulung von Hausärzten konnte Medikation älterer Patienten nicht ausreichend verbessern

(16.11.2016) Vermehrte Stürze, eine beeinträchtigte Lebensqualität und mehr Krankenhausaufenthalte – das können die Folgen einer falschen Medikamentenversorgung sein. Doch wie lässt sich verhindern, dass potenziell inadäquate Medikamente für unabhängig lebende Senioren vom Hausarzt verschrieben werden? Mit dieser Frage haben sich sieben Mediziner im Rahmen einer dreijährigen Forschungsarbeit beschäftigt. Deren Erkenntnis: Praxis-Schulungen können nicht schaden. Doch durch die Intervention der Mediziner konnten keine nennenswerten Verbesserungen für die Patienten gemessen werden. Es müsse noch viel intensiver nachgeforscht und geschult werden.

„Noch wissen wir also nicht, wie wir das Problem der potenziell inadäquaten Medikation am besten in den Griff bekommen“, sagt Studienkoordinator PD Dr. Ulrich Thiem, Chefarzt der Klinik für Geriatrie im Geriatrie-Zentrum Haus Berge in Essen. Mit der RIME-Studie („Reduction of potentially Inappropriate Medication in the Elderly”) wollten die Wissenschaftler herausfinden, wie sich potenziell inadäquate Medikation bei noch selbstständig lebenden Senioren in hausärztlicher Behandlung reduzieren lässt. Gefördert wurde das Projekt vom Bundesministerium für Bildung und Forschung. Lange wurde das Problem in Deutschland nicht wissenschaftlich untersucht. Erst seit 2010 gibt es mit PRISCUS eine Negativliste an Medikamenten, die älteren Menschen nicht verschrieben werden sollten. „Wir wissen aber noch nicht, was passiert, wenn wir diese Empfehlungen konsequent anwenden. Nur weil ein Medikament, das auf der Liste steht, vermieden wird, muss es dem Betroffenen nicht gleichzeitig besser gehen“, sagt Thiem.

Studien-Setting: allgemeines Fortbildungsangebot vs. umfangreiche Schulungen

Für die RIME-Studie konnten die Mediziner 138 Hausärzte und 1.138 Patienten zur Teilnahme bewegen. Aufgeteilt in zwei nahezu gleichstarke Gruppen wurde der einen Hausarzt-Gruppe lediglich ein Fortbildungsangebot zu allgemeinen Themen der Arzneimitteltherapie bei Älteren angeboten. Die zweite Gruppe bekam ein gezieltes Angebot mit einer modifizierten PRISCUS-Liste. Und nicht nur das: Die Forscher wollten zusätzlich wissen, ob es einen Unterschied macht, wenn die Praxen im Team für das Thema sensibilisiert werden oder der Hausarzt allein informiert wird.
Für diese experimentelle Intervention gab es eine Fortbildung im Rahmen einer CME-Veranstaltung sowie Schulungsmaterial in Form einer PRISCUS-Karte mit zusätzlicher Beschreibung. Den Medizinern wurde zusätzlich der Besuch durch einen „peer“, also einen erfahrenen und im Thema speziell geschulten Hausarztkollegen, zur Fallbesprechung angeboten. Auch eine Telefon-Hotline für Fragen war Bestandteil des Interventionspakets.

Anteil inadäquater Medikamente nach einem Jahr in beiden Gruppen ähnlich

Die an der Studie teilnehmenden Senioren waren im Durchschnitt 77,5 Jahre alt, die Hälfte von ihnen weiblich. Alle wurden über ein Jahr beobachtet und mehrfach nach ihrer Medikamentenversorgung befragt. Zu Beginn der Untersuchung wurde durchschnittlich bei 39,8 Prozent der Probanden pro Praxis festgestellt, dass zumindest ein Medikament als potenziell inadäquat zu werten ist. Zu diesen Präparaten gehörten Kardiaka wie Digitalis, Doxazosin und Flecainid sowie Antidepressiva wie Amitriptylin und Doxepin.

Ein Jahr nach Studieneinschluss war der Anteil von Patienten mit potenziell inadäquater Medikation in beiden Interventionsgruppen gleich. Numerisch sank der Anteil in der Interventionsgruppe gegenüber der Hausarztgruppe mit allgemeiner Schulung nur um 2,3 Prozent. „In der Studienplanung sind wir von 9 Prozent ausgegangen“, so Thiem. Auch bei typischen Folgen wie Stürzen, Krankenhausaufenthalten oder beeinträchtigter Lebensqualität gab es keine signifikanten Unterschiede. Tendenziell scheint der Teamansatz in der ganzen Praxis vielversprechend zu sein. „Aber mit einer Differenz von 4,3 Prozent zwischen den beiden Gruppen ist auch dieser Unterschied nicht statistisch signifikant“, erläutert Thiem die Ergebnisse.
 
Intervention offensichtlich zu schwach? Mögliche Folgestudien sollten intensiver intervenieren

Wie lässt sich nun aber die Zahl der Senioren verringern, die ein potenziell inadäquates Medikament bekommen? „Hierüber sind die Bücher noch nicht geschlossen“, sagt Thiem. „Die Intervention in der RIME-Studie war offensichtlich zu schwach. Mögliche Folgestudien sollten also unbedingt intensiver intervenieren. Und auch weitere Interventionswege sind zu prüfen!“

Auch wenn die Ergebnisse der dreijährigen RIME-Studie enttäuscht haben, sieht Studienkoordinator PD Dr. Ulrich Thiem die Forschung auf einem guten Weg. Welcher das genau ist, und wie Benchmarking für eine verbesserte Medikation sorgen könnte, das hat er im Interview näher erläutert.

Was haben Sie sich von der RIME-Studie versprochen?
PD Dr. Ulrich Thiem: Wir wollten damit erstmals untersuchen, ob die konsequente Anwendung einer Negativliste wie der PRISCUS-Liste bei Medikamenten auch gleichzeitig eine Qualitätssteigerung bei der Behandlung von Senioren bedeutet. Nur weil der verschreibende Arzt die Hinweise von PRISCUS beachtet, muss das nicht automatisch bedeuten, dass es dem Patienten besser geht.

Mit welchen Folgen müssen Patienten bei potenziell inadäquater Medikation rechnen?
Thiem: Potenziell inadäquate Medikation wird mit vielen Nachteilen für den Patienten in Verbindung gebracht. Man vermutet vermehrte Stürze, eine Beeinträchtigung der Lebensqualität und mehr Krankenhausaufenthalte.

Nun hat sich in der Studie das Paket zur Reduktion potenziell inadäquater Medikation nicht als wirksam erwiesen. Können Sie den Untersuchungen trotzdem etwas abgewinnen?
Thiem: Unsere Hoffnung nach einer einfachen und versorgungsnahen Lösung hat sich nicht erfüllt. Aber wir wissen wenigstens, dass die Intervention aus der RIME-Studie für das komplexe Problem offensichtlich zu schwach gewesen ist. Aus anderen Studien kennen wir Ansätze, die einzelne Medikationsfehler fokussieren und stärker intervenieren. Und diese Studien haben durchaus Erfolg.

Aber das hätten Sie in Ihrer Studie ja auch machen können, oder?
Thiem: Ja. Aber wir wollten in einer pragmatischen Studie eine versorgungsnahe Möglichkeit der Verbesserung testen. Hätte die RIME-Studie eine deutliche Verbesserung gezeigt, hätte das Interventionspaket quasi am gleichen Tag in die Versorgung übernommen werden können. Übrigens war der versorgungsnahe Ansatz auch Wunsch unseres Förderers, des Bundesministeriums für Bildung und Forschung.

Wer hätte diese Schulungen dann organisieren und umsetzen können?
Thiem: Letztendlich wäre es am besten, wenn sich Mediziner innerhalb ihrer sogenannten Peers bewegen. In diesem Fall könnten speziell trainierte Hausärzte ihre Kollegen schulen und gemeinsam mit ihnen das Programm zur potenziell inadäquaten Medikation durchlaufen. Man könnte diesen Weg nun durchaus einschlagen. Aber nach unserer Studie ist aus wissenschaftlicher Sicht davon auszugehen, dass dies beim Patienten nicht viel bewirkt.

Geht also der Weg über eine Negativliste doch in die falsche Richtung?
Thiem: Nein, so kann man es nicht sagen. Für einzelne Wirkstoffe, die auf der PRISCUS-Liste stehen, sind die Nachteile für den Patienten auch wissenschaftlich ganz gut dokumentiert. Insofern sind Negativlisten, die auf problematische Wirkstoffe aufmerksam machen, weiterhin ein Thema. Aber es gibt viele weitere Problemfelder, die bei der Medikation beachtet werden müssen.

Sie denken an Wechselwirkungen, wenn man viele verschiedene Wirkstoffe einnimmt?
Thiem: Ja, genau. Wechselwirkungen sind etwas, was Negativlisten nicht berücksichtigen. Wir haben das in der RIME-Studie im Schulungsmaterial und in der PRISCUS-Karte aufgenommen, aber nur in sehr knapper Form. Und über die Wechselwirkungen hinaus gibt es weitere Aspekte, zum Beispiel Dauer und Dosierung der Medikamente, Dosisanpassungen bei eingeschränkter Nierenfunktion und so weiter.

Waren die Hausärzte denn insgesamt dem Vorhaben gegenüber aufgeschlossen?
Thiem: Doch, das waren sie. Denken Sie daran, dass wir die meisten Praxen über die Praxisnetze der Universität Witten/Herdecke und der Medizinische Hochschule Hannover ins Boot bekommen haben. Die sind Projektarbeit und Forschungsvorhaben gewöhnt. Aber: Hauptaufgabe einer Praxis ist nicht die Forschung, sondern die Patientenversorgung. Durch ein Studienvorhaben wird der allgemeine Ablauf einer Hausarztpraxis stark gestört und auch das Personal wird stark in Anspruch genommen. Wir mussten wirklich kämpfen, um am Ende mit 138 Praxen zusammenarbeiten zu können.

Sie sagen, die Teilnehmer der Studie kamen aus den Regionen Witten/Herdecke und Hannover. Gab es regionale Unterschiede?
Thiem: Darauf haben wir auch geachtet, es waren aber keine nennenswerten regionalen Unterschiede auf der sogenannten Zentrumsebene zu erkennen. Wir wissen aus europäischen Vergleichen, dass es sehr wohl Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern gibt. Deshalb könnte das noch ein spannender Punkt für zukünftige Studien sein.

Können wir also mit einer Fortsetzung der RIME-Studie rechnen?
Thiem: Das wiederum glaube ich kaum. RIME hat klar gezeigt, dass wir mit dieser doch recht einfach gehaltenen Intervention bei Hausärzten nicht genug erreichen. In einer Folgestudie müssten wir also noch mehr tun – und das erhöht ganz erheblich Aufwand, Zeit und Kosten. Dafür einen Sponsor zu finden, wäre nicht einfach. Zudem gibt es aktuell etliche Projekte, auch von Seiten der Krankenkassen, die sich mit dem Thema der potenziell inadäquaten Medikation beschäftigen.

Sehen Sie dann überhaupt Alternativen?
Thiem: Die sehe ich durchaus – und da lohnt sich der Blick ins Ausland. Zum Beispiel konnte in einer Studie nachgewiesen werden, dass sich der Antibiotikaverbrauch durch ein Benchmarking-System der Arztpraxen verringern lässt. Sprich: Die Praxen sehen anhand eines Rankings, auf welchem Level sie sich im Vergleich zum durchschnittlichen Antibiotikaverbrauch befinden. Darauf können sie dann entsprechend reagieren. Dieses System wäre vielleicht auch ein Ansatz für das Problemfeld der potenziell inadäquaten Medikation.

In welcher Form muss die Politik an dieser Stelle aktiv werden?
Thiem: Erstmal gar nicht. Ich sehe hier den Spielball eher im Feld der Forschung und bei den Praktikern, die uns aufzeigen müssen, was in ihrer Verschreibungspraxis konkrete Hemmnisse und Probleme sind. An diesen Ergebnissen könnten wir weitere Schritte festmachen. Die RIME-Studie hat hier durchaus bewirkt, dass mehr Ärzte und die Öffentlichkeit für das Thema der inadäquaten Medikation sensibilisiert wurden. Und ich bin der Ansicht, dass wir den Ärzten mehr Zeit zum Bearbeiten dieses Themenkomplexes zur Verfügung stellen müssen.

 

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